Autorin: Regina Friedmann

Fallkommentar | Autonomie - ein Beispiel aus dem Betreuungsalltag

Falldarstellung

Frau T. ist Rollstuhlfahrerin und wohnt aufgrund einer körperlichen Beeinträchtigung und einer Lernschwierigkeit in einer Wohngruppe eines freien Trägers. Aufgrund zeitweise aggressiven Verhaltens erhält sie eine Dauermedikation mit sedierender Wirkung. Zwischen ihrem Wohnheim und der nächstgelegenen Station des öffentlichen Nahverkehrs und zu ihrer Arbeitsstelle kann sie sich selbstständig bewegen, unbekannte Strecken oder solche mit mehrmaligem Umsteigen fährt sie nicht alleine. Regelmäßig trifft sich Frau T. im Stadtzentrum mit einer Freizeitgruppe, bestehend aus Menschen verschiedenen Alters mit und ohne Behinderungen.

Den Weg dorthin bewältigt sie mithilfe eines privaten Fahrdienstes und den Freun-den vor Ort. Da das Kind eines Freundes aus der Freizeitgruppe getauft wird, lädt dieser alle Gruppenmitglieder, unter anderem auch Frau T., zu der Tauffeier und dem daran anschließenden Kaffee-Trinken ein. Die Tauffeier findet am Tag nach dem monatlichen Freizeittreffen statt und beginnt vormittags mit dem Taufgottes-dienst. Wie bei allen Unternehmungen des Freundeskreises ist die Begleitung der Aktivitäten durch die Betreuer aus den Wohngruppen nicht notwendig. Um pünkt-lich zum Taufgottesdienst erscheinen zu können, müsste Frau T. um 8h30 aus dem Haus gehen, am Wochenende beginnt der Dienst des Betreuungspersonals aus ihrer Wohngruppe jedoch erst um 9h. Frau T. ist meist schon vorher wach und beschäftigt sich dann in ihrem Zimmer bis der Dienst beginnt. An den Wochenenden verbringt sie viel Zeit vor dem Fernseher, da aufgrund der personellen Besetzung keine anderen Unternehmungen möglich sind. Da es sich bei den Taufeltern um langjährige Freunde handelt, möchte Frau T. gerne zur Feier gehen.

Bevor Frau T.s Medikation erhöht wurde, ist es in der Vergangenheit im Rahmen der Unternehmungen des Freundeskreises und auch in der Wohngruppe in Überforderungssituationen in Zusammenhang mit ihrer Beeinträchtigung oder allgemeiner Belastung vorgekommen, dass Frau T. teilweise wütend und aggressiv reagierte. Zu Handgreiflichkeiten ist es dabei jedoch schon seit einigen Jahren nicht mehr gekommen. Die Betreuer sind der Meinung, dass die Feier aufgrund der zeitlichen Nähe zum Freizeittreffen zu viel für Frau T. sei und möchten sie überzeugen, nicht zur Taufe zu gehen. Sie wissen, dass sie auf Frau T. einen großen Einfluss ausüben.

Handlungsleitende Fragestellung

Aus der oben stehenden Fallbeschreibung ergeben sich verschiedene ethische Probleme auf verschiedenen Stufen.

Die Fragestellungen, die daraus erwachsen, sind auf der individualethischen Ebene beispielsweise: Dürfen bzw. sollen die Sozialprofessionellen darauf hinwirken, dass Frau T. einsieht, dass zwei Freizeittermine an einem Wochenende zu viel für sie sind, oder sollen sie sich nach ihren Wünschen richten?

Auf sozialethischer Ebene spielen jedoch noch weitere Überlegungen eine Rolle: Wer muss sich wem anpassen – muss sich Frau T. dem Dienstplan in der Wohn-gruppe unterordnen? Oder kann von den Betreuerinnen und Betreuern verlangt werden, dass sie früher zum Dienst erscheinen oder länger arbeiten?

Fallkommentierung aus ethischer Sicht

Handlungsleitende Paradigmen für Professionelle im Betreuungsalltag sind der Res-pekt des Rechts auf Selbstbestimmung und die Pflicht, zum Wohle des Klienten zu handeln. Letztere beinhaltet auch eine Fürsorge- und Schutzpflicht - dort, wo der/die Betroffene nicht in der Lage ist, verantwortlich für sich selbst zu entscheiden und Sorge zu tragen. Fürsorge ist dabei nicht paternalistisch als Sorge für jemanden zu verstehen, sondern im Sinne von Sorge dafür tragen, dass jemand ein Leben mit guter Lebensqualität führen kann (Seifert 2009, 127). Genau zwischen diesen Paradigmen entsteht auch der zentrale Wertekonflikt im vorliegenden Fall.

Letztendlich geht es in ethischen Konflikten darum, eine konkrete Werteabwägung vorzunehmen. Im vorliegenden Fall handelt es sich also um eine Gewichtung des Werts der Autonomie gegenüber dem der Fürsorge. Die ethische Frage, die sich in diesem Fall stellt, lautet: Sollen oder dürfen die Betreuerinnen und Betreuer darauf hinwirken, dass Frau T. ihre Meinung ändert und nicht zur Taufe geht? Überreden sie sie, nicht zum Fest zu gehen, oder machen sie es ihr unmöglich, zur Taufe zu gehen, so missachten sie ihren persönlichen Wunsch. Ermöglichen sie ihr beide Freizeittermine wahrzunehmen, so nehmen sie möglicherweise in Kauf, dass Frau T. auf der Tauffeier letztendlich mit der Situation überfordert ist. Um die Frage der Werteabwägung zu beantworten, ist es wichtig, genauer zu betrachten, was die Norm der Achtung des Rechts auf Autonomie einerseits und das Fürsorgeprinzip andererseits verlangen und welchem von beiden gegebenenfalls Priorität einzuräumen ist.

Bei dieser Hierarchisierung müssen auch (strukturelle) Machtasymmetrien berück-sichtigt werden. Menschen, die in betreuten Wohneinrichtungen leben, sind Men-schen, die meist auf professionelle Hilfe angewiesen sind. Asymmetrische Beziehungen bergen immer die Gefahr des Machtmissbrauchs, unabhängig von den Intentionen der Sozialprofessionellen, die durchaus ehrbar sein können. Verantwortung und Fürsorge richtig verstanden bedeuten nicht, die Definitionsmacht über das Wohlergehen des Hilfeempfängers inne zu haben und für den Menschen zu entscheiden, sondern ausgehend von den artikulierten subjektiven Bedürfnissen, die zur Verfügung stehenden Ressourcen zu aktivieren, um die Interessen des hilfebedürftigen Menschen durchzusetzen.

Selbstbestimmung ist auch in der Arbeit mit Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, seit spätestens den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer zentralen Leitidee geworden. Die normative Kraft dieses Paradigmas ist grundsätz-lich also unbestritten. Im Kontext von geistiger Beeinträchtigung, insbesondere in der Arbeit mit Erwachsenen, stellt sich Sozialprofessionellen jedoch immer wieder die Frage, in welchem Maße überhaupt die Fähigkeit zur Autonomie als gegeben betrachtet werden kann, also inwiefern Menschen mit Lernschwierigkeiten die Freiheit selbstbestimmten Entscheidens zugestanden werden kann, ohne sie dabei Überforderungs- oder starken Belastungssituationen auszusetzen oder sie gar zu gefährden. Der ethische Konflikt spannt sich dann zwischen den Normen Fürsorge und Autonomieachtung auf. Zum Dilemma werden solche Situationen in dem Mo-ment, in dem es unmöglich ist, beiden Normen gleichzeitig und gleichermaßen gerecht zu werden.

Bei diesem Konflikt hilft zunächst die Frage nach den Bedingungen weiter, die gegeben sein müssen, um eine Entscheidung im je möglichen Maße als autonome Entscheidung betrachten zu können. Eine Grundvoraussetzung ist die Informiertheit der Entscheidung der Betroffenen. In Bezug auf die vorliegende Situation bedeutet dies: Um Frau T. eine selbstbestimmte Entscheidungsfindung zu ermöglichen, ihr Recht auf Autonomie zu respektieren und dem gesetzlich festgeschriebenen Auftrag der Assistenz und Förderung von Teilhabe gerecht zu werden, muss überlegt werden, wie gewährleistet werden kann, dass Frau T. sich bewusst ist über die zeitlichen Dimensionen ihres Wunsches, zur Taufe zu gehen und die Anforderungen, die dadurch auf sie zukommen. Beispielsweise könnte mit ihr besprochen werden, welche Wege sie zurücklegen müsste, wie die Tauffeier den Tag über verlaufen wird, dass womöglich viele Leute da sein werden und es Musik und eventuell Lärm geben wird. Zu überlegen wäre dann mit ihr gemeinsam auch, welche Unterstützungsformen sie benötigen würde, um teilnehmen zu können. Es besteht dann auch die Möglichkeit, konkret einzelne Mitglieder aus dem Freundeskreis, die auch bei der Taufe anwesend sein werden, mit in diese Überlegungen oder gar Vorbereitungen einzubeziehen.

Hinsichtlich des Wertes der Selbstbestimmung lässt sich auch argumentieren, dass die Ermöglichung der Autonomie der Klientinnen und Klienten im Sinne einer Ent-wicklungsförderung einen zentralen Auftrag der Sozialprofessionellen im Betreu-ungskontext darstellt. Insofern hat die Einbeziehung von Frau T. in die Entschei-dungsfindung oder -umsetzung, bzw. die Orientierung an ihren artikulierten Wünschen eine doppelte normative Kraft (im Sinne der Achtung ihres Rechts auf eine autonome Lebensgestaltung und im Sinne der Beförderung einer selbstbe-stimmten Lebensweise durch eine von der Wahrnehmung subjektiver Bedürfnisse ausgehende, gezielte Unterstützung dabei, die eigenen Wünsche zu artikulieren und umzusetzen).

Ist eine Person nicht in der Lage, eine verantwortliche Entscheidung für sich selbst zu treffen oder droht sich gar in eine gefährdende Situation zu bringen, dann – und nur dann – haben Sozialprofessionelle die Pflicht, die Sorge für diese Person zu übernehmen. Welche Maßnahmen verlangt die Pflicht, im Sinne des Wohlergehens des Hilfeempfängers zu handeln, in der beschriebenen Situation? Im dargestellten Fall ist zu überlegen, wie sich das Ausmaß der Belastung, die sich für Frau T. ergibt, gestaltet. Liegt für Frau T. tatsächlich eine maßgebliche Gefährdung vor, deren Folgen sie nicht abschätzen kann, wenn sie zusätzlich zu dem monatlichen Treffen auch zur Taufe geht?

Und wenn nicht, haben die Betreuerinnen und Betreuer das Recht zu definieren, ob dies zu ihrem Wohl ist, noch dazu, wenn es im Gegensatz zu ihrer eigenen Einschätzung steht? Berauben sie sie, wenn sie sie überreden nicht hinzugehen, nicht einer wichtigen Möglichkeit, soziale Kontakte außerhalb ihrer Wohneinrichtung zu pflegen und an gesellschaftlichen Ereignissen teilzunehmen, die bedeutsam für die individuelle Lebensqualität sind?

Was ist die persönliche Motivation der Sozialprofessionellen, Frau T. davon zu überzeugen, die Einladung nicht wahrzunehmen? Haben sie tatsächlich Sorge, dass beide Freizeittermine Frau T. zu stark belasten könnten? Haben sie Angst, sie könnte aggressiv reagieren und die Taufgesellschaft sprengen? Oder sind sie nicht bereit, früher zum Dienst zu erscheinen? Womöglich haben sie aufgrund einer restriktiven Personalpolitik der Einrichtung und der daraus resultierenden chronischen Unterbesetzung überhaupt nicht die Möglichkeit dazu. Vielleicht haben sie einfach keinen Kopf oder keine Kapazitäten, auch noch ein solches Sonderereignis zu organisieren.

Bei all diesen Begründungen muss die Frage gestellt werden, was sie mit dem sub-jektiven Wohlergehen von Frau T. zu tun haben, ob sie überhaupt etwas damit zu tun haben, welche Ressourcen zur Verfügung stehen, um diesen Sorgen zu begeg-nen und inwiefern sie mit Frau T.s Recht auf Autonomie vereinbar sind. Denn ent-scheidungsleitend muss aus ethischer Sicht das individuelle Wohlergehen des Hilfeempfängers sein, nicht persönliche Ideale und Werte der Sozialprofessionellen oder ein persönlicher Nutzen, der sich für sie im professionellen Kontext ergibt.

Auf einer sozialethischen Ebene stellt sich im Arbeitsalltag dennoch auch die Frage, welche Auswirkungen die Umsetzung von Frau T.s Wunsch auf die Situation der Sozialprofessionellen hat. Ist der Mehraufwand, der sich für sie ergibt (eventuell Überstunden machen, Dienst früher beginnen, zusätzliche Arbeitskraft), nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit rechtfertigbar? Inwiefern sind die notwendigen institutionellen Bedingungen, mit solchen Situationen umzugehen, ohne dass sich dies in nicht hinzunehmendem Maß nachteilig auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auswirkt, gegeben? Oder müsste von Seiten der Einrichtungsleitung nicht gar, um ihrem Auftrag der Assistenz und Teilhabeförderung überhaupt in irgendeiner Weise gerecht werden zu können, garantiert werden, dass eine flexible Einstellung auf die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner nicht durch starre Arbeitszeiten und personelle Minimalbesetzung verunmöglicht wird? Insofern ergibt sich hier für die Sozialprofessionellen auch ein Auftrag, die Interessen der Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtungsleitung gegenüber zu vertreten und mögliche strukturelle Probleme anzusprechen.

Für eine umfassende Betrachtung des Konflikts ist auch von Bedeutung, welche Alternativen sich Frau T. bieten, wenn sie nicht zur Taufe gehen kann.

Wie dargestellt, kann sich der Konflikt zwischen Autonomie und Fürsorge entschärfen lassen, wenn man erstens danach fragt, worin in einem konkreten Fall das individuelle Wohlergehen der Betroffenen tatsächlich besteht und ob (bei Frau T. und dem Betreuungspersonal) womöglich konkurrierende Definitionen davon vorherrschen. Zweitens hilft bei der Priorisierung die Frage danach, welche Bedingungen notwendig sind, um von einer verantwortlichen, selbstbestimmten Willensäußerung ausgehen zu können, und wie diese erreicht werden kann. Ob es tatsächlich objektive Gründe geben kann, die sich im dargestellten Fall als Gefährdung für Frau T. darstellen und daher prioritär gegenüber ihrem Recht auf Selbstbestimmung zu behandeln sind und welche dies sein könnten, kann nur durch eine Verständigung mit Frau T. und im Team zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sie gut kennen, ermittelt werden. Frau T. selbst und ihre persönlichen Werte in all diese Überlegungen mit einzubeziehen ist dabei unerlässlich.

 

Weiterführende Literatur

Seifert, Monika (2009): Selbstbestimmung und Fürsorge im Hinblick auf Menschen mit besonderen Bedarfen. In: Teilhabe, Jg. 48, 2009, Heft 3, S. 122-128
Waldschmidt, Anne (2012): Selbstbestimmung als Konstruktion. Alltagstheorien behinderter Frauen und Männer., 2. korrigierte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften