Fallvignette  |  elektronische Überwachungssysteme bei Demenz

Fallbeschreibung

Frau Meyer ist 84 Jahre alt und lebt seit drei Jahren in einem Pflegeheim in ihrer Heimatstadt. Sie ist demenziell erkrankt. Neben Phasen stark eingeschränkter örtlicher und zeitlicher Orientierungslosigkeit existieren tagesformabhängig Zeiten, in denen Sie Ihrem Sohn und den MitarbeiterInnen des Heims orientiert gegenübertritt. Sie kann dann Entscheidungen über ihre alltäglichen Angelegenheiten wie z.B. die Auswahl des Essensmenues, die Teilnahme an den Konzerten ihrer nahegelegenen Kirchengemeinde oder die Auswahl der Kleidung selbständig treffen. Auch in der nahegelegenen Bäckerei kauft sie Kuchen ein. Frau Meyer bewegt sich ihrem Alter entsprechend ohne Hilfsmittel fort. Da im Pflegeheim versucht wird, auf die individuellen Bedürfnisse der unterschiedlichen BewohnerInnen einzugehen, bewegt sich Frau Meyer im gesamten Haus ohne Überwachung und Begleitung. Der Sohn von Frau Meyer hat vor einem Jahr die rechtliche Betreuung über die Aufenthaltsbestimmung, die Gesundheit und das Vermögen übernommen.

Schon seit ihrem Umzug in das Pflegeheim geht Frau Meyer mehrmals in der Woche ohne vorherige Absprachen alleine in der näheren Umgebung des Heims für eine Stunde spazieren und musste innerhalb der letzten sechs Monate zweimal mit Unterstützung der Polizei von den MitarbeiterInnen des Heims gesucht werden. Letzte Woche stürzte Frau Meyer in einem nahegelegenen Waldstück und wurde stark unterkühlt nach einer zweistündigen Suchaktion von der Polizei zurück ins Heim gebracht. Bei einer Stationsbesprechung am nächsten Tag äußern mehrere MitarbeiterInnen die Sorge, Frau Meyer könnte sich aufgrund Ihrer Orientierungslosigkeit beim Verlassen des Heims verletzen. Die MitarbeiterInnen entschließen gemeinsam mit der Stationsleitung Frau Meyer mit einem elektronischen Sensorsystem auszustatten. Dies bedeutet, dass ein Sensorstreifen in den Schuh von Frau Meyer eingelegt wird, der bei Verlassen durch die Eingangstüre des Pflegeheimes ein Signal an ein Empfangsgerät der Bezugspflegerin abgibt. Frau Meyer soll dann von einer Mitarbeiterin dazu bewegt werden, das Heim nicht zu verlassen. Jedoch könne, so sind sich alle PflegerInnen einig, nicht generell verhindert werden, dass Frau Meyer das Heim verlässt und sich verletzt. Zusätzlich, so wird vereinbart, soll in einer weiteren Besprechung in drei Wochen darüber beraten werden, ob für eine Begleitung der Spaziergänge durch den ehrenamtlichen Besuchsdienst der Kirchengemeinde gesorgt werden kann. Die MitarbeiterInnen sind erleichtert über diese Lösung.

In der nächsten Woche spüre ich bei der morgendlichen Hilfe beim Ankleiden, dass eine Kollegin den Sensorstreifen in den Schuh von Frau Meyer eingelegt hat. Meiner Erfahrung nach reagiert Frau Meyer auf Veränderungen, insbesondere an ihren persönlichen Gegenständen, stets ängstlich und aggressiv. Ich überlege, ob ich Frau Meyer über diesen Streifen in Kenntnis setze.

Wäre es nicht besser, gemeinsam mit Frau Meyer in ihren orientierten Phasen über den Chip zu sprechen? Oder hat Frau Meyer sogar ein Recht darauf von mir darüber in Kenntnis gesetzt zu werden? Wäre die Einbeziehung des Sohnes und Frau Meyer nicht eine notwendige Voraussetzung für eine Entscheidung gewesen?

Wie weit darf die professionelle Fürsorge der MitarbeiterInnen gehen, bevor sie in Paternalismus umschlägt? Wo liegen die Grenzen der Selbstbestimmung von Frau Meyer? Darf der persönliche Bewegungsraum seitens des Heims überhaupt kontrolliert und eingeschränkt werden?